Bildungsdisconnect : Wenn Lehrer die Schüler nicht verstehen – und umgekehrt
Derzeit wächst in deutschen Schulen eine digitale Kluft. Diese verschärft die Entfremdung zwischen Lehrenden und Lernenden weiter. Die stetig wachsende Bedeutung von Künstlicher Intelligenz im Lernalltag zeigt, dass Schule ihre Rolle in der Lebenswelt der Lernenden neu definieren muss, um sinnstiftendes Lernen und zukunftsfähige Bildung zu gewährleisten.
Die Unzufriedenheit mit dem deutschen Bildungssystem ist mit Händen zu greifen. Fast die Hälfte aller Eltern von schulpflichtigen Kindern beurteilen das Schulsystem kritisch. Dies geht aus einer aktuellen Studie der Telekom Stiftung hervor. Mängel verorten die Eltern vor allem in Sachen Chancengerechtigkeit, bei qualifiziertem pädagogischen Personal und mit Blick auf die Infrastruktur. Auch aufseiten der Lehrkräfte ist die Unzufriedenheit groß. Neben einer hohen Arbeitsbelastung und der heterogenen Schülerschaft betrachten sie laut dem Schulbarometer 2024 vor allem deren Verhalten als Herausforderung. Sie konstatieren Mobbing und Gewaltbereitschaft, Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsprobleme, geringe Lernmotivation und mangelnde Disziplin.
Ein ‚educational disconnect‘ verstärkt die Bildungskrise
Die Bildungskrise hat sicherlich viele Ursachen, doch halten wir einen Einflussfaktor für erheblich unterschätzt: Obwohl die Schülerinnen und Schüler in der Kultur der Digitalität aufwachsen, schlägt sie sich im Schulalltag noch nicht ausreichend nieder.
Laut der Befragung der Robert Bosch Stiftung fühlt sich beispielsweise noch immer lediglich ein Fünftel aller Lehrkräfte kompetent im Umgang mit digitalen Medien im Unterricht. Schon diese Kluft zwischen technologischem Fortschritt und schulischer Praxis hat Auswirkungen auf den Unterricht.
Drastisch verschärft wird die Entfremdung zwischen Schule und Lebenswelt nun mit der Disruption aller Lebensbereiche durch die Entwicklungen im Bereich Künstliche Intelligenz. Wir erleben derzeit eine Revolution des Lernens, bei der KI eine ähnliche transformative Kraft entfaltet, wie es das Internet vor 30 Jahren getan hat – nur sehr viel schneller und potentiell weitreichender. KI verschärft damit die doppelte Entfremdung der Schule von der Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler, die wir als „Educational Disconnect“ bezeichnen: Das Bildungssystem verliert zunehmend die Verbindung zur Realität, was wiederum bedingt, dass sich Lernende innerlich abwenden.
Wir gehen davon aus, dass wir die Indizien dieser Disruption bereits täglich sehen und spüren, sie ihren Niederschlag in der Belastung des Gesamtsystems finden, wir sie aber oft nicht verstehen. Und so sind Schülerinnen und Schüler tagtäglich mit einem System konfrontiert, das vielerorts weder ausreichend auf ihre Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen ausgerichtet ist noch ihnen die Orientierung bietet, nach der sie in ihrem digitalen, von multiplen Krisen gezeichneten Alltag suchen. Schule gelingt es vielfach nicht, ein Ort bedeutungsvollen und sinnstiftenden Lernens zu sein.
KI und Wissensvermittlung
Der Wandel von der Wissens- zur Informationsgesellschaft hat das Wissensmonopol von Lehrkräften erodieren lassen. Wo sie ihre Autorität aus ihrer Fachlichkeit und damit ihrem Wissensvorsprung ziehen, werden sie von vielen Schülerinnen und Schülern nicht ernst genommen. Lernende können schließlich Unterrichtsinhalte nicht nur jederzeit überprüfen oder sich von ihren Lieblingsinfluencern nahebringen lassen, sondern sich Wissen mithilfe generativer KI an ihrem Vorwissen, ihren Lernpräferenzen und ihren individuellen Interessen orientiert interaktiv aneignen. Anwendungen auf Basis generativer KI sind mittlerweile recht zuverlässig bei der Vermittlung von Informationen.
Was aber für Schülerinnen und Schüler wichtiger sein dürfte: Interaktionen mit Chatbots oder KI-Lerntools sind so niedrigschwellig und unterhaltsam, dass zumindest der herkömmliche Frontalunterricht in der Regel nicht mithalten kann. KI-Chatbots etwa können im mündlichen Gespräch wirken wie ein menschliches Gegenüber, sind aber zu jeder Tages- und Nachtzeit geduldige Zuhörer, verteilen großzügig Anerkennung und Wertschätzung, ohne zu konfrontieren, zu kritisieren oder zu fordern. Frei von den Kränkungen hierarchiegeprägter Kommunikation, geben sie auf kriterialer Ebene Rückmeldung, was man zum Beispiel bei schulischen Aufgaben besser machen kann.
Um zu lernen, was Schülerinnen und Schüler lernen möchten, sind sie also nicht mehr auf Schule angewiesen. Selbst für soziale Bedürfnisse gewinnt KI in Form von AI-Companions für junge Menschen zunehmend an Bedeutung. Daher ist es umso wichtiger, dass Schule das, was Schülerinnen und Schüler nicht von sich aus lernen möchten, ihnen gegenüber als bedeutsam ausweisen kann. Oder, wie es der Bildungsinfluencer Bob Blume in seinem neuen Buch auf den Punkt bringt: „Das Warum muss ins Zentrum des Lernens.“
Aber auch das Wissen, das in der Schule vermittelt wird, stellt ein großes Problem dar. Wissen ist in einer Kultur der Digitalität zwar unverändert wichtig, ihm kommt aber eine fundamental veränderte Funktion zu: Es liefert nicht mehr – einmal erworben – die Basis für kompetentes Handeln in Beruf und Gesellschaft, sondern bildet die Basis für die Entwicklung kritischen Denkens und ist somit essenziell für die Orientierung in einer Welt im Wandel, die zunehmend von multimodaler Desinformation durchwoben ist. Diese Verschiebung hat eine Art Relevanzdefizit geschaffen – eine Kluft zwischen dem, was Schülerinnen und Schüler in der Schule lernen, und dem, was sie wirklich brauchen. Entscheidend ist nicht mehr, etwas (im Detail) gelernt zu haben, sondern über ein kompassartiges Grundlagenwissen hinaus lernen zu können als Basis einer umfassenden Bildung in einer sich rasant verändernden Welt.
Schülerinnen und Schüler in einer KI-geprägten Welt
Als vermeintliche digital natives leben Schülerinnen und Schüler in einer durch und durch digitalen Welt, deren Gesetzmäßigkeiten sie als Nutzer jedoch nicht hinreichend verstehen. Viele von ihnen verbringen außerhalb der Schule mehr Zeit mit ihrem digitalen Endgerät in sozialen Netzwerken als mit anderen Menschen. Sie nutzen ihr Handy für die unterschiedlichsten Bedürfnisse, etwa nach Information, Ablenkung oder Freundschaft. Und sie sind durch ihr Handy ungeschützt Inhalten ausgesetzt, die sie überfordern, verunsichern oder verängstigen und deren Authentizität sie nicht mehr ausreichend bewerten können.
Dieser unbewusste Konsum KI-generierten Contents – über die Reproduktion rassistischer und sexistischer Stereotype generativer KI wurde viel geschrieben – führt zu verzerrten Normalitätsvorstellungen und Identitätskrisen vieler junger Menschen. Obwohl es also gute Gründe für die Diskussion um ein Handyverbot an Schulen gibt, wertet Schule mit einer Verbotsdiskussion einen wichtigen Teil ihrer Lebensrealität ab. Damit Bildung gelingen kann, muss Schule die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler jedoch anerkennen.
Grund zur Hoffnung besteht
Natürlich steht die Transformation der Schule nicht erst bevor, sie ist in vollem Gange. Und im gesamten Bildungssystem besteht ein weitreichender Konsens darüber, dass angesichts der weitreichenden technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen etwas passieren muss. In den Schulen explorieren viele engagierte Schulleitungen und Lehrkräfte mutig und verantwortungsbewusst die Potentiale von KI im Unterricht, reflektieren Gefahren für die Gesellschaft, entwickeln neue professionelle Praktiken unter Bedingungen von KI und ein entsprechendes Rollenbild. Sie bringen ihre Erfahrungen offen in die interessierte Community ein und gewährleisten so, dass gute Lösungen auch andernorts umgesetzt werden können.
Ihr Potential als change agents der Transformation können sie in der Breite jedoch genauso wenig entfalten, wie es bisher gelingt, Schülerinnen und Schüler als Expertinnen für ihre Lebenswelt in die Veränderungsprozesse einzubeziehen. Denn den KI-kompetenten Lehrkräften steht eine große Mehrheit gegenüber, für die KI eine zusätzliche Anforderung (noch eine mehr) darstellt, in die sich einzuarbeiten daher eine kaum leistbare Anstrengung bedeutet – auch, weil dringend nötige Entlastung an anderer Stelle ausbleibt. Verstärkt wird diese Überforderung noch durch die Rechtsunsicherheiten im Bereich Datenschutz oder Urheberrecht, die bei nahezu jedem Tool auf dem Markt nicht hinreichend geklärt sind.
Doch Angst und Lähmung sind ganz sicher keine guten Ratgeber. Aus einer Perspektive der Überforderung heraus bleibt schnell unerkannt, dass Schule sich durch KI bereits verändert, schon allein, weil KI unsere Schülerinnen und Schüler, deren Umgang mit Wissen und ihre Art zu lernen verändert. Sich mit KI auseinanderzusetzen erfordert sicherlich Aufwand, doch ist KI nicht bloß ein Thema on top, sondern berührt alle wesentlichen Themen guter Schule: Beziehungsgestaltung und Sozialität, bedeutsames Lernen, Infrastruktur, Schulentwicklung und nicht zuletzt Prüfungen. Die Auseinandersetzung mit KI kann zudem große Entlastung mit sich bringen, weil ein tieferes Verständnis der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern hilft, besseren und erfüllenden Unterricht zu gestalten, und KI Zeiteinsparungspotentiale bietet, zum Beispiel bei der Erstellung von Unterrichtsmaterial, für Differenzierung und Individualisierung.
Wir können davon ausgehen, dass für ein erfülltes Leben in einer KI-geprägten Welt Kompetenzen entwickelt werden müssen, die wir gerade nur teilweise erfassen. Wir alle – Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Schulleitungen und alle Ebenen der Bildungsadministration – müssen uns daher gemeinsam mit der Frage beschäftigen, welches Wissen wir über KI brauchen, wie wir mit und durch KI lernen können, wo lernen ohne KI geboten ist und wie es trotz KI erfolgreich sein kann. Beständige Antworten werden wir auf vieles nicht finden, denn dafür ist die Technologie in zu schnellem Wandel – es sollte uns aber zur Gewohnheit werden, unser Handeln anhand dieser Fragen zu reflektieren. Um der Transformation nicht ausgeliefert zu sein, sollten wir uns dieser Herausforderung rasch und vor allem gemeinsam annehmen. Auf dem Spiel steht, das Fortschreiten dieser doppelten Entfremdung zu verhindern: dass Bildungseinrichtungen den Anschluss an die Lebensrealitäten des 21. Jahrhunderts nicht noch weiter verlieren und dass Lernende sich aufgrund dessen von ihnen abwenden.