Iran : Der ewige Drahtzieher
Die tödlichen Pager-Explosionen im Libanon haben einmal mehr deutlich gemacht, wie stark Iran in die regionale antiisraelische Achse verwickelt ist, zu der die Hizbullah zählt. Tausende wurden verletzt, als Pager, die von Hizbullah-Mitgliedern benutzt wurden, gleichzeitig im gesamten Libanon detonierten. Auch der iranische Botschafter im Libanon wurde verletzt. Die Pager wurden den Hizbullah-Mitgliedern offenbar vom Iran als sichere Kommunikationsalternative zur Verfügung gestellt. Nach den Explosionen schickte der Iran rasch medizinische Unterstützung in den Libanon. Wohin steuert das Land unter seinem neuen Präsidenten Massud Peseschkian?
Seit seiner Wahl haben viele spekuliert, dass sich die Strategie des Irans ändern werde. Immer wieder wurde er als „Reformer“ bezeichnet, der sich gegen die Konservativen im Iran stellen werde, die Dynamik zwischen Teheran und Washington verändern und einige der Maßnahmen der Regierung zur sozialen Kontrolle – etwa die Zensur des Internets – beenden werde. Seine Wahl wird von vielen westlichen Fachleuten als eine Überraschung dargestellt, weil er einen konservativen Kandidaten besiegte und den internen Wettbewerb um das Amt gewann.
Peseschkian ist ein Beschützer des Regimes
Vor diesem Hintergrund gibt es Analysen innerhalb und außerhalb des Landes über das Ausmaß des Wandels, den Peseschkian in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten des Landes bewirken könne. Darüber hinaus gibt es Spekulationen über die Herausforderungen, die auf ihn zukommen werden, falls er versuchte, die politische Richtung zu ändern. In dieser Debatte aber wird der wichtigste Faktor für den Sieg von Peseschkian übersehen, nämlich die Zustimmung des Wächterrates (Guardian Council). Der Rat, der die Wahlprozesse im Iran überwacht, wird direkt von Obersten Führer Ali Khamenei kontrolliert.
Daher ist es falsch, Peseschkian als „Gemäßigten“ und „Reformer“ einzustufen, der verspricht, die strategische Ausrichtung der Islamischen Republik grundsätzlich zu ändern. Peseschkian ist ein Insider des Regimes. Er ist loyal gegenüber der Institution des Obersten Führers. Vor den Wahlen musste er ihm seine uneingeschränkte Loyalität gegenüber der politischen Ideologie der Islamischen Republik und dem Rat bestätigen als Voraussetzung für deren Zustimmung zu seiner Wahlzulassung. Aus diesem Grund wird er von oppositionell gestimmten Teilen der Gesellschaft eher als Beschützer des Regimes denn als Beschützer des Volkes wahrgenommen. Dies spiegelte sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung wider.
Die uneingeschränkte Macht des Obersten Führers
Bei jeder Analyse möglicher Auswirkungen der vergangenen Präsidentschaftswahlen auf Aspekte der Politikgestaltung im Iran muss man sich die bestehende Machtstruktur und die politischen Entscheidungsprozesse vor Augen führen. In dieser Struktur hat das Büro des Obersten Führers, das sich aus Khameneis innerem Kreis von Beratern und Vertrauten zusammensetzt, die ultimative Macht im Iran. Viele im Westen neigen dazu, solche Analysen zu diskreditieren. Sie glauben, dass „Khamenei kein Marionettenspieler sei“. Nach dieser Auffassung besteht das politische System im Iran aus verschiedenen Mechanismen der Konsensbildung. Das aber führt in die Irre.
Denn die sogenannten Mechanismen zur Konsensfindung werden ebenfalls von der Institution des Obersten Führers kontrolliert. Das höchste konsensbildende Gremium im Iran ist der Oberste Nationale Sicherheitsrat. Gemäß Artikel 176 der Verfassung der Islamischen Republik können die Beschlüsse des Rates nur umgesetzt werden, wenn sie vom Obersten Führer genehmigt wurden. In der derzeitigen politischen Struktur Irans ist er keine Person, sondern eine Institution, die sich aus einer kleinen Zahl von Personen zusammensetzt, denen Khamenei und sein enger innerer Kreis (einschließlich seines Sohnes Mojtaba) vertrauen. Diese Institution hat einen militärischen Arm, die Islamischen Revolutionsgraden (Islamic Revolutionary Guards Corps, IRGC). Gemeinsam stehen sie über allen anderen staatlichen Institutionen im Iran. Von Gewaltenteilung und effektiver Kontrolle kann keine Rede sein.
Direkte Befehle und Kommuniqués, die vom Büro des Obersten Führers herausgegeben werden, um die Grundzüge der Politik festzulegen, sind in den vergangenen Jahrzehnten in Iran zur Norm geworden. Diese Befehle zielen meist auf das ab, was Khamenei persönlich als „Re-Revolutionierung“ des Iran bezeichnet. Das Büro diktiert seine Vision allen anderen politischen Institutionen, einschließlich dem Parlament und dem Präsidentenamt. Ein klarer Beweis dafür ist die Wirtschaftspolitik des vergangenen Jahrzehnts, die den „wirtschaftlichen Jihad“, den „wirtschaftlichen Widerstand“ gegen Irans außenpolitische Feinde und die Ernennung von „Jihadi“-Managern fördert – alles Konzepte, die von Khamenei zum ersten Mal eingeführt worden sind.
Auch die Wirtschaft ist nur Mittel zum Zweck
Trotz des zunehmenden wirtschaftlichen Drucks im eigenen Land hat die Regierung die Zuweisung staatlicher Ressourcen vorrangig auf die Förderung ihrer strategischen Macht ausgerichtet. Geringes Wachstum, hohe Inflation, das Monopol des Staates auf fast alle gewinnbringenden Wirtschaftstätigkeiten, Korruption und Vetternwirtschaft, hohe Armutsquote und sinkender Lebensstandard sowie Sanktionen haben sich auf jeden Aspekt des Lebens der Bürger im Iran ausgewirkt. Trotz all dieser wirtschaftlichen Herausforderungen hat die Regierung darauf bestanden, kostspielige strategische Projekte in der gesamten Region des Nahen Ostens zu verfolgen, die eine vorrangige Zuweisung von Ressourcen erforderten und dabei die innenpolitischen Herausforderungen außer Acht gelassen haben.
Im Ausland stützt das Regime die libanesische Hizbullah-Miliz, die Israel mit wachsender Härte angreift, das syrische Assad-Regime, die schiitischen „Volksmobilisierungseinheiten“ im Irak und die Huthi-Rebellen im Jemen, die immer wieder Schiffe angreifen. Das Amt des Obersten Führers hat Narrative, Strategien und Ernennungen gefördert, die die bestehende Struktur stützen und ihn wahrscheinlich überdauern werden. Peseschkian und seine Regierung werden dies nicht ändern.
Wer könnte den Obersten Führer ersetzen?
Der Oberste Führer, nicht der Präsident, wird der wichtigste Faktor sein, der die politische Richtung der Islamischen Republik in den nächsten Jahren verändern könnte. Angesichts des hohen Alters des 85-jährigen Khamenei könnte der Übergang zum nächsten Führer mit der Präsidentschaft von Peseschkian zusammenfallen. Der Machtwechsel nach Khamenei dürfte eine Herausforderung für das System darstellen, zumal es keinen offensichtlichen Nachfolgekandidaten gibt. Der jüngst bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommene Vorgänger des neuen Präsidenten, Ebrahim Raisi, war eine der wenigen verbliebenen Persönlichkeiten, die das Potential hatten, Khamenei zu ersetzen.
Sein Tod hat die Nachfolgekrise verdeutlicht. In den vergangenen Jahren wurde Mojtaba Khamenei, der Sohn des Supreme Leader, häufig als Anwärter auf den Posten genannt. Nach der Wahl von Peseschkian wurden in verschiedenen Städten Plakate in den Straßen angebracht, die Peseschkian und Mojtaba in einem Bild zeigen. Obwohl die Banner keinen Text enthalten, werden sie als eine Kampagne interpretiert, die die Öffentlichkeit auf ein großes Ereignis vorbereiten soll.
Das Erbe Khameneis, sein Bemühen um die Personalisierung der Exekutivgewalt und das Aufrechterhalten seiner Politik wird in den Händen seines Nachfolgers bleiben. In der gegenwärtigen innenpolitischen Dynamik wird von den hochrangigen IRGC-Führern erwartet, dass sie eine Schlüsselrolle beim Übergang der Macht des Obersten Führers spielen werden. Khameneis Nachfolger könnte auch die Unterstützung von Peseschkian benötigen. Aus diesem Grund besteht dessen Hauptmandat im Erhalt der langfristigen Stabilität des Regimes und nicht in einer mittelfristigen Änderung der Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik. Langfristige Stabilität erfordert möglicherweise einen politischen Wandel, sowohl im Land selber wie auch auf internationaler Ebene. Derzeit ist jedoch nicht klar, was solche Veränderungen mit sich bringen könnten.
Alles in allem sind die Aussichten auf Veränderungen unter Peseschkian begrenzt. Er ist ein weiterer „Ja-Sager“, der von der Institution des Obersten Führers ausgewählt wurde, um den Interessen des Regimes zu dienen. Die erwartete politische Ausrichtung seiner Regierung dürfte sich in mehreren Strategien ablesen lassen: Raisis Ostpolitik dürfte mit dem Ausbau der der Beziehungen zu China und Russland fortgesetzt werden.
Die Regierung wird eine weitere Normalisierung der Beziehungen zu den Golfstaaten suchen. Sie wird weiterhin Stellvertreter in der Region (Libanon, Syrien, Irak, Jemen) unterstützen und die Feindseligkeit gegenüber Israel aufrechterhalten. Im Land wird sie die sozialen Restriktionen wie Schleierzwang beibehalten. Und sie dürfte eine Wirtschaftspolitik verabschieden, die staatsnahen Gruppen und Persönlichkeiten Möglichkeiten zur Bereicherung offeriert.
Die Beziehungen des Irans zu Europa und insbesondere zu Deutschland werden sich unter Peseschkian wohl kaum verbessern. Der Iran wird Russland in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine weiterhin unterstützen. Schließlich ist Peseschkian nicht in der Lage, die iranische Nuklearstrategie zu ändern. Diese wird vorrangig vom Büro des Obersten Führers bestimmt. In etwaigen Verhandlungen mit den USA über eine Wiederbelebung des Nuklearabkommens (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) wird Iran die Urananreicherung auf Waffenqualität fortsetzen, um Druck auszuüben und eine bessere Vereinbarung zu erreichen.