Chinas Machtstreben : Peking bringt die westliche Ordnung ins Wanken
Donald Trump hat kein Interesse an einer US-Führungsrolle in den Institutionen multilateraler Kooperation. Würde sein Wahlsieg die westlich geprägte internationale Ordnung gefährden? Ihr Zustand ist auch ohne einen US-Präsidenten Trump fragil – vom gelähmten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (United Nations, UN) bis zur marginalisierten Welthandelsorganisation.
China unter Präsident Xi Jinping steht bereit – mit der strategischen Weitsicht, wie sie nur Peking kennt. Schließlich will China die USA als führende Weltmacht ablösen, spätestens bis 2049, wenn die Volksrepublik 100 Jahre alt wird. Dieses Ziel formulierte Xi schon 2013 zu seinem Amtsantritt.
Bereits die vom Westen beschworene „regelbasierte internationale Ordnung“ ist unlängst zum Kampfplatz der rivalisierenden Großmächte geworden. Der Begriff umfasst das nach 1945 entstandene System von Verträgen, Abkommen, Prinzipien und Institutionen zur Regelung der Staatenbeziehungen – mit der Charta der Vereinten Nationen (VN) als Ausgangspunkt, einschließlich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Kritik am Konzept des Westens
China – und Russland – kritisieren die Werte Demokratie, Freiheit und Menschenrechte des Konzeptes. Damit werde es zu einem Herrschaftsinstrument der USA und ihrer Verbündeten, die immer wieder neue Regeln erfänden, die eigenen Interessen dienten, aber von international akzeptierten Normen abwichen.
Dem setzen Peking und Moskau in einträchtigen Erklärungen eine traditionelle „Souveränitäts-basierte internationale Ordnung“ entgegen. Für sie soll allein die UN-Charta im Mittelpunkt stehen. Beide präsentieren sich als ihr Hüter – gegen die „Instrumentalisierung durch den Westen“. Staatensouveränität, Sicherheit vor Einmischung in innere Angelegenheiten, Ablehnung von unilateralen Zwangsmaßnahmen wie Sanktionen, rangieren ganz oben – so, als hätte es keine Weiterentwicklung des Völkerrechtes gegeben, etwa im Menschenrechtsbereich.
Auch viele Entwicklungsländer stehen dem Konzept der „regelbasierten internationalen Ordnung“ zunehmend kritisch gegenüber. Als meist junge Staaten konnten sie sich nur begrenzt an der sich entwickelnden Ordnung beteiligen. Hinzu kommen die (nicht unberechtigte) Kritik an westlichen Interventionen in ihren Ländern und der Vorwurf selektiver Doppelmoral bei Verstößen gegen die propagierte Ordnung. Die Haltung der USA und ihrer Verbündeten zum Gazakrieg hat – zu Recht oder zu Unrecht – die Distanz zum westlichen Lager wie kein zweites jüngeres Ereignis vergrößert. Das nützt Chinas Anspruch, Meinungsführer des Südens zu sein.
Peking sieht eine historische Chance für die eigene Machtprojektion. Xi Jinping kleidet seine Zuversicht in die Formel, „die Welt erlebe tiefgreifende Veränderungen, wie man sie ein Jahrhundert lang nicht mehr gesehen hat“. Damit ist die Vorstellung vom Niedergang der USA, ja des Westens insgesamt und der Aufstieg des Reichs der Mitte gemeint. Programmatisch verbindet sich damit die Ambition eines – wie es in offiziellen Stellungnahmen heißt – „neuen, wahren Multilateralismus“, der die gegenwärtige „hegemoniale Ordnung“ überwinde.
Offen für viele Adressaten und Formate
Innerhalb einer Dekade legte Präsident Xi vier globale Initiativen auf. Den Anfang machte 2013 die „neue Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative, BRI), ein gigantisches Infrastrukturprojekt mit geostrategischem Charakter. Es nützte vor allem der chinesischen Industrie, viele Entwicklungsländer tappten indes in eine Schuldenfalle. Doch die BRI war mehr als nur Infrastruktur. Sie schuf für China ein globales Netzwerk in internationalen Organisationen.
Dort hatte der Westen jahrzehntelang die Debatten über Normen und Institutionen bestimmt. China (und Russland) reagierten stets defensiv. Pekings Führung analysierte richtig, dass es ihr an „Diskursmacht“ in der internationalen Arena mangele. 2017 führte Xi Jinping die Vision einer „Gemeinschaft für eine gemeinsame Zukunft der Menschheit“ in den Vereinten Nationen ein. Ihr Duktus könnte sprachlich und konzeptionell nicht vager und abstrakter sein. Mit Absicht: Sie sollte für viele Adressaten und Formate brauchbar sein. Verschiedene Regierungspapiere – das aktuellste aus dem Jahr 2023 – wurden konkreter. Dort waren die traditionellen Prinzipien von strikter Staatensouveränität, Nichteinmischung und „Anti-Hegemonismus“ Trumpf.
Chinas Initiativen zu Entwicklung, Sicherheit und Zivilisation
Xis „Vision“ beinhaltet drei „globale Initiativen“, die er selbst in den Jahren 2021 bis 2023 bei den Vereinten Nationen vortrug. Er beschrieb sie explizit als „Blaupausen zur Transformation der globalen Ordnung“.
Mit der „globalen Entwicklungsinitiative“ unterstreicht Peking seinen Führungsanspruch der Länder des Südens. Gleichzeitig bezeichnet China sich selbst als „größtes Entwicklungsland der Welt“, das – modellhaft für alle – innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen „globale öffentliche Güter“ bereitstelle. Die Volksrepublik formuliert die Priorität: Wirtschaftliche Entwicklung komme vor Menschenrechten.
Xis „globale Sicherheitsinitiative“ hat eine klar antiwestliche Stoßrichtung. Sie positioniert sich gegen „kalte Kriegsmentalität“, „Unilateralismus“, „Hegemonismus“ und „Blockkonfrontation“. Statt Allianzbildung bedürfe es einer neuen „balancierten Sicherheitsarchitektur“, die Staatensouveränität und Nichteinmischung respektiere.
Umdeutung des Universalitätsprinzips der Menschenrechte
Die „globale Initiative der Zivilisationen“ – lanciert im Mai 2023 – ruft zum Respekt für die unterschiedlichen Zivilisationen und Traditionen der Staaten mit ihren je eigenen politischen Modellen auf. Sie zielt gegen ein Einheitsmuster für Menschenrechte und das westliche Monopol des Menschenrechtsschutzes. Der Universalität der Menschenrechte wird das Konzept der „gemeinsamen Werte der Menschheit“ entgegengestellt. Die Attraktivität dieses Denkens für viele Länder des Südens ist mit Händen zu greifen. Sie empfinden westliche Kritik an ihrer Menschenrechtslage häufig als verlogene Belehrung.
So schwammig und nebulös die chinesischen Initiativen sind, ihre Sprache und Konzeption werden von chinesischen Diplomaten systematisch in die Gremien und Dokumente der internationalen Institutionen eingeführt. Im UN-Menschenrechtsrat wird die Umdeutung des Universalitätsprinzips der Menschenrechte betrieben. Eine sogenannte „Freundesgruppe“ der „globalen Entwicklungsinitiative“ umfasst 70 Staaten und ist unterlegt mit chinesischen Finanzmitteln. Die „globale Sicherheitsinitiative“ hat angeblich hundert Unterstützerstaaten.
Wie weit ist China mit seiner Vision einer neuen internationalen Ordnung gekommen? Die Bilanz ist gemischt. In den Vereinten Nationen hat China an Diskursmacht, an politischem Gewicht und an Gefolgschaft bei Abstimmungen gewonnen. Für einen Teil der Länder des Südens ist es in eine Führungsposition hineingewachsen. Die unlängst erweiterte BRICS-Gruppe um China, Russland, Brasilien, Indien und Südafrika nutzt China geschickt als Plattform zur Propagierung der eigenen Konzepte.
Nicht alle Länder des Südens stehen an Chinas Seite
Aber China hat auch Gegenreaktionen ausgelöst. Westliche Länder wehren sich mit gleichgesinnten Verbündeten gegen Chinas Menschenrechts-Revisionismus. Auch Länder des Südens lehnen Chinas autoritäre Ordnungsvorstellungen ab. Schlechte Erfahrungen nähren das Misstrauen gegen Pekings Versuch, das Seidenstraßen-Projekt und die „globale Entwicklungsinitiative“ als wohltätige „globale öffentliche Güter“ zu verkaufen. Und Indien macht sich als alternative Führungsmacht des Südens bereit, wie kürzlich bei der Asien-Pazifik-Konferenz der deutschen Wirtschaft in Delhi erneut deutlich wurde. Indien könnte eine ernsthafte Konkurrenz werden, sollte Chinas Wirtschaftskraft verblassen.
Dennoch sollte der Westen Chinas Ambitionen, die globale Ordnung zu verändern, ernst nehmen. Sie sind auf lange Sicht angelegt. Mit schnellen Erfolgen rechnet Peking selbst nicht. In jedem Fall muss der Westen stärker auf die Länder des Südens zugehen – ohne zu missionieren. Deren berechtigte Anliegen wie stärkere Teilhaberechte in internationalen Organisationen (UN-Sicherheitsrat, Weltbank und Internationaler Währungsfonds, IWF) gehören auf die Reformagenda.
Fiele die USA als Führungsmacht aus, müsste vor allem Europa neue Allianzpartner finden – über den Westen hinaus. Sonst drohte eine weitere Fragmentierung der internationalen Ordnung in regionale und sektorale Parallelordnungen. Dies wäre gewiss eine noch komplexere und weniger sichere Welt als bisher.