Autoritätsverlust :
Die Großmacht droht zu verblassen

Gastbeitrag
Von Peter Wittig
Lesezeit: 4 Min.
Die Muskeln spielen lassen: Das amphibische Angriffsschiff „USS Wasp“, hier im Hafen von New York im Mai 2023
Der polarisierte Wahlkampf verdeckt tiefgreifende Veränderungen der US-Weltmachtpolitik. Diese werden in Europa noch zu wenig wahrgenommen, schreibt der frühere deutsche Botschafter in Washington.
Merken

Das Schauspiel des Showdowns zwischen den Präsidentschaftskandidaten Kamala Harris und Donald Trump fasziniert die Welt. Die scharfe Polarisierung der beiden Lager überdeckt jedoch Gemeinsamkeiten, die besonders Europäer leicht übersehen. Sie sind Ausdruck langfristiger struktureller Entwicklungen der amerikanischen Gesellschaft in einem sich wandelnden geopolitischen Umfeld. Die Auswirkungen auf Europa und das transatlantische Verhältnis sind tiefgreifend. Vier Megatrends lassen sich identifizieren:

Protektionistische Abkehr von offener Weltwirtschaft

Die Abwendung vom alten „Washington Consensus“, der den Freihandel und die offene Weltwirtschaft hochhielt, wurde maßgeblich bestimmt durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas. China-Falken in Washington erlangten die Oberhand. Die Aufnahme Pekings in die Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) im Jahr 2001 galt ihnen als Sündenfall. Die Strukturkrise der traditionellen US-Industrien und die Notlage der „Blue Colour Workers“ diskreditierten die klassische US-Außenwirtschaftspolitik. Trump wirkte wie ein politischer Brandbeschleuniger. Sein protektionistisches Credo infizierte die gesamte Republikanische Partei. Sie war einst Bannerträgerin des Freihandels, während die mit den Gewerkschaften liierten Demokraten stets stärker protektionistisch ausgerichtet waren.

Die Biden-Administration folgte den Spuren Trumps und ließ dessen Zölle weitgehend intakt. Sie wollte die Arbeiter zurückgewinnen. Neue Freihandelsabkommen schloss sie explizit aus und zeigte keinerlei Interesse, die gelähmte WTO wiederzubeleben. Mehr noch: Nationale sicherheitspolitische Interessen in der Großmachtrivalität mit China dominieren immer stärker die Wirtschaftsbeziehungen. Zwangsmaßnahmen – von Sanktionen bis hin zu Exportbeschränkungen – folgten einander auf dem Fuß.

Harris zeigt sich mit Blick auf Zölle im Wahlkampf zwar moderater als Trump, der sich mit Zollankündigungen immer wieder selbst überbietet. Doch auch sie gilt als Skeptikerin des Freihandels. Sie war gegen das Projekt einer Transpazifischen Partnerschaft von Präsident Barack Obama und gegen das neue Freihandelsabkommen von USA, Mexiko und Kanada. Auch eine Harris-Administration wäre also Teil des protektionistischen „New Washington Consensus“, wenn auch in einem freundlicheren Umgangston mit Verbündeten.

Hinwendung nach Asien – Rivalität mit China

Wer immer die künftige Präsidentschaft innehat, die Großmachtrivalität zwischen den USA und China wird zur bestimmenden Achse der internationalen Politik. Das Verhältnis zu China wird die geopolitische und geoökonomische Ausrichtung der USA bestimmen. Der Stellenwert Europas hingegen wird sinken. Ob das Verhältnis der beiden Supermächte auf Dauer antagonistisch ist oder auch kooperative Züge zeigt, ist noch offen. Derzeit indes dominiert in den USA die Strategie des „Containment“: Einhalt des wirtschaftlichen und technologischen Aufstiegs Pekings und Eindämmung seiner Einflusssphäre. Auf der anderen Seite hat auch der chinesische Präsident eine klare Marschroute vorgegeben: Spätestens 2049 – zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik – soll China die USA als führende Weltmacht abgelöst haben.

Präsident Trump begann 2017 die sogenannte „Quad“ wiederzubeleben: den Viererbund der USA mit Indien, Australien und Japan zur militärischen und politischen Einhegung Chinas. Biden hat dieses Bündnis weiter gestärkt, um Peking in den drohenden Konflikten um Taiwan und im Südchinesischen Meer Paroli zu bieten. Außerdem hat er ein Netz bilateraler Partnerschaften im asiatisch-pazifischen Raum geknüpft. Trump hingegen dürfte das Schicksal der Demokratie in Taiwan einerlei sein. Eine kriegerische Verwicklung der USA läge ihm fern. Stärker interessiert ihn Taiwan als monopolartiger Standort der Chipindustrie.

Sowohl Harris als auch Trump propagieren die wirtschaftliche Entflechtung der Abhängigkeiten von China. Trump indes ist in seiner China-Politik unberechenbarer. Jederzeit ist er zu „Deals“ mit Xi Jinping bereit, wenn ihm das opportun erscheint.

Sinkende Bereitschaft zur Unterstützung von Allianzen

Im derzeitigen Wahlkampf treten die Unterschiede in der Außen- und Sicherheitspolitik besonders deutlich hervor: Harris bewegt sich – zur Freude der Europäer – ganz in der Spur Bidens: NATO-freundlich, mit dem Bekenntnis zur globalen Führungsrolle der USA sowie starker Ukraine-Unterstützung und scharfer Putin-Kritik. Trump nährt mit seiner Rhetorik des situativen „deal-making“ im Stile des „America First“ die Zweifel an der Bündnistreue der USA.

Über die Grundströmung der US-Bevölkerung jenseits der Parteigrenzen darf man sich aber nicht hinwegtäuschen: Sie ist immer weniger bereit, die USA in militärische Konflikte und Krisen verwickelt zu sehen und Lasten für Bündnispartner zu tragen. Das gilt auch für die Ukraine. Dabei werden am gigantischen Militärbudget von über 900 Milliarden Dollar keine Abstriche gemacht werden. Die USA wollen weiter Militärmacht Nummer eins sein, aber nur dort agieren, wo ihre nationalen Interessen auf dem Spiel stehen.

Die Polarisierung bleibt – die demokratische Vorbildrolle verblasst

Als Biden antrat, wurde ihm zugetraut, die gespaltene amerikanische Gesellschaft zu einen. Das ist ihm trotz guter Vorsätze nicht gelungen. Auch nach dem jetzigen Wahlkampf – mit Trump als Chefpolarisierer – besteht keine Aussicht auf Besserung. Im Gegenteil: Sollte Trump erneut knapp verlieren, wären eine Verfassungskrise sowie gewaltsame Ausschreitungen möglich. Einerlei wer die Wahl gewinnt, die USA bleiben ein gesellschaftlich zerrissenes Land. Ihre „soft power“, ihr Vorbildcharakter als älteste konstitutionelle Demokratie der Welt, wird weiter Schaden nehmen. Das hat Folgen für die Führungskraft im Lager westlich-demokratischer Staaten.

Die EU wird die US-Führung besonders vermissen, hat sie es doch in ihrem Inneren zusehends mit der autoritären Versuchung zu tun. Aber auch darüber hinaus, im breiten Spektrum der Länder des „globalen Südens“, verlieren die USA an Autorität. Das, was gemeinhin „regelbasierte internationale Ordnung“ genannt wird, stellt sich für viele Staaten des Südens als unglaubwürdiges westliches Produkt dar.

Die USA als dominante Macht in einer offenen Weltwirtschaft, als glaubwürdige Führungsnation militärischer Bündnisse, als globaler Leuchtturm liberal-demokratischer Werte – das wird auf absehbare Zeit verblassen. US-Historiker weisen gerne darauf hin, dass das internationale Engagement der USA nach dem Zweiten Weltkrieg ohnehin nur eine Anomalie ihrer nationalen Geschichte war. Die notwendigen Konsequenzen für Europa liegen auf der Hand: die Stärkung seiner autonomen Verteidigungskraft, seiner wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und seines handelspolitischen Instrumentariums. Viele Entscheidungsträger sehen das bereits kommen. Es wird ihnen ein großes Maß Entschlusskraft abverlangen.

Botschafter a. D. Dr. Peter Wittig
Peter Wittig war deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York, in Washington und in London. Seit 2020 ist er für die Schaeffler Gruppe als „Senior Advisor Global Affairs“ tätig. Außerdem lehrt er an der ESMT Berlin.
Bild: Privat
  翻译: