Südkorea : Die geopolitischen Folgen eines gescheiterten Staatsstreichs
Ratlosigkeit, Beschämung und wütende Erregung bestimmen die Atmosphäre in Südkorea. Das Land befindet sich in einer Verfassungskrise. Zwar wurde das am 3. Dezember 2024 von Präsident Yoon Suk-yeol verhängte Kriegsrecht bereits am folgenden Tag wieder aufgehoben. Aber seitdem erschüttert der unbedachte Verzweiflungsakt eines schwachen und persönlich überforderten Politikers Staat und Gesellschaft. Ihm wurden zuvor Verstöße gegen das Wahlrecht vorgeworfen. Seine einflussreiche, aber in der koreanischen Gesellschaft höchst umstrittene Frau sah sich neben anderen Verdächtigungen dem Vorwurf der Börsenmanipulation ausgesetzt.
Die Opposition wirft Yoon einen versuchten Staatsstreich vor und verlangt seine Bestrafung. Die große Mehrheit der koreanischen Bevölkerung reagiert empört auf das Verhalten des Präsidenten und die Verfassungskrise. Sie steht unter Schock: Der zurückgetretene Verteidigungsminister ist verhaftet, der Innenminister zurückgetreten. Mit Recht sind die Koreaner stolz darauf, dass ihr Land als Mitglied der G 20 im 21. Jahrhundert zu den führenden Staaten der Welt gehört. Die Entwicklung seit dem 3. Dezember empfinden sie als Schmach und kollektiven Gesichtsverlust vor der internationalen Gemeinschaft.
Aber trotz des Vertrauensverlustes in die politische Führung wird sich die südkoreanische Staatskrise vermutlich als eine vorübergehende Episode erweisen. Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur bleiben die leistungsstarken Sektoren der koreanischen Gesellschaft, sie werden vom Drama der Politik nur mittelbar berührt.
Allianzen mit USA und Japan wackeln
Südkoreas Zentralbank rechnet damit, dass die Exporte des Landes in diesem Jahr nominal im hohen einstelligen Prozentbereich steigen werden. Die Importe sollen ebenfalls zulegen, wenn auch langsamer. Dadurch könnte Südkorea 2024 in der Handelsbilanz – nach zwei Jahren eines Defizits – einen Überschuss in einer Größenordnung von mehr als 30 Milliarden Dollar erzielen. Getrieben wird die Ausfuhr vor allem von der Nachfrage nach Halbleitern und Schiffen. Für beide Branchen erwartet das Korea Institute for Industrial Economics & Trade (KIET) zweistellige Zuwächse. Korea, die elfgrößte Volkswirtschaft und achtgrößte Exportnation der Welt, ist für Deutschland der drittwichtigste Absatzmarkt in Asien. Verwaltung und Justiz, Diplomatie und Militär verfügen über hohe Fachkompetenz und werden auch künftig ihre Aufgaben professionell erfüllen.
Gleichwohl könnte die fatale Fehlentscheidung vom 3. Dezember geopolitische Folgen haben. Die von Präsident Yoon und seiner konservativen Regierungspartei mit Nachdruck betriebene Stärkung der sicherheitspolitischen Allianz mit den USA und die Annäherung zwischen Japan und Korea sind aufgrund der jüngsten innenpolitischen Entwicklung infrage gestellt: Beide Projekte werden von der Opposition abgelehnt. Zudem führt die aktuelle Lage eindringlich vor Augen, dass auf der koreanischen Halbinsel stets mit unvorhersehbaren Ereignissen gerechnet werden muss.
Südkorea ist ein demokratisch verfasster Rechtsstaat. Aber sowohl die politischen Repräsentanten als auch die Zivilgesellschaft handeln häufig mit verblüffender Spontaneität. Dabei werden sie von Emotionen und Motiven geleitet, die Außenstehenden kaum verständlich sind. Schwer zu überblickende Familien- und Freundesbeziehungen, strenge akademische Hierarchien und traditionelle regionale Netzwerke prägen die koreanische Politik. Und welcher westliche Beobachter rechnet schon damit, dass in Südkorea, dem christlichsten Land Ostasiens, Wahrsager und Schamanen Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnen können?
Putin als Partner des Nordens
Die Spannung zwischen Oberflächenkultur der Moderne und Tiefenkultur der Tradition ist in Korea besonders hoch. Sie sorgt nicht nur im Süden des Landes für Unsicherheit und Überraschungen. Auch die nordkoreanische Dynastie, die keine Rücksichten auf Wahlen und parlamentarische Mehrheiten nehmen muss, verblüfft immer wieder mit blutigen Familienzwisten und unvorhersehbaren Einzelentscheidungen. Wird sich Kim Jong-un, Nordkoreas oberster Führer, noch einmal mit Donald Trump treffen? Und welche Wirkungen wird sein Militärbündnis mit Wladimir Putin haben, das am 5. Dezember, zwei Tage nach der kurzfristigen Verhängung des Kriegsrechts im Süden, offiziell in Kraft getreten ist?
Die deutsche Politik tut gut daran, die Lage auf der koreanischen Halbinsel aufmerksam zu beobachten; denn neben internationalen Handelsbeziehungen und bilateralem Kulturaustausch werden künftig wohl auch militärische Frontlinien die beiden koreanischen Staaten mit Deutschland verbinden. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt wurde Deutschland im August 2024 Mitglied des sogenannten UN Command (UNC), das die Einhaltung des Waffenstillstands entlang der Demarkationslinie bewacht, die seit dem „Einfrieren“ des Koreakrieges am 38. Breitengrad die Halbinsel teilt.
Deutschland als Wächter an der Demarkationslinie
Nordkorea betrachtet das UNC als von Washington gesteuerte „illegale Kriegsorganisation“. Und obwohl Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) beim Besuch der Demilitarisierten Zone (DMZ) zwischen Nord- und Südkorea offenließ, ob in Zukunft deutsche Soldaten zur Überwachung des Waffenstillstandes von 1953 eingesetzt werden, verurteilte Pjöngjang die zunächst nur symbolische deutsche Beteiligung als einen Schritt, der den Frieden und die Stabilität auf der koreanischen Halbinsel gefährde.
Auch in Deutschland wurden vereinzelt völker- und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Beteiligung am UNC erhoben, denn die koreanische Halbinsel befindet sich zumindest de jure noch im Kriegszustand und die UNC-Mission ist trotz ihres Namens kein klassischer Blauhelm-Einsatz auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen.
Zudem nehmen gegenwärtig rund 10.000 nordkoreanische Soldaten auf russischer Seite am Krieg in der Ukraine teil. Werden sie nach einer Einstellung der Kampfhandlungen in Europa bleiben? Nach der Wahl Donald Trumps wird vielerorts ein „Einfrieren“ des russisch-ukrainischen Krieges in der ersten Jahreshälfte 2025 erwartet. Stehen sich dann östlich der Demarkationslinie Nordkoreaner und westlich davon im NATO-Verbund deutsche Einheiten gegenüber?
Nicht auszuschließen ist, dass künftig die DMZ am 38. Breitengrad und eine eingefrorene Frontline jenseits des Dnjepr für die deutsch-koreanischen Beziehungen wichtiger sein werden als die aktuelle Verfassungskrise Südkoreas.