Politische Bücher : Auch Moskaus Spione wussten vieles nur aus der Zeitung
Es ist erst wenige Tage her, dass Details einer Operation des russischen Militärgeheimdienstes GRU enthüllt wurden. Investigativjournalisten fanden heraus, dass Russland bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 Afghanen angeworben hat, um Anschläge auf die vorherige Regierung in Kabul und auf in Afghanistan stationierte amerikanische Soldaten zu verüben. Dabei soll Moskau Prämien und Asyl in Russland versprochen haben. Der GRU hat der Recherche zufolge einen Juwelenhandel als Tarnung benutzt, um ein Netzwerk afghanischer Kuriere zu betreiben, die Geld an Talibankämpfer und andere militante Gruppen lieferten.
Der Einsatz in Afghanistan ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie der Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU), auf Deutsch: Hauptverwaltung Aufklärung, versucht, andere Staaten zu destabilisieren. Dabei gilt der GRU als der geheimste der russischen Nachrichtendienste. Der deutsche Historiker Matthias Uhl hat nun eine umfassende Darstellung des Militärgeheimdienstes vorgelegt. Auf mehreren Hundert Seiten blickt er auf die mehr als zweihundert Jahre lange Geschichte des GRU, stellt dessen Operationen und Einsätze vor und zeichnet nach, wie Moskau mit Überläufern und Doppelagenten umgeht. An der Vergiftung des ehemaligen GRU-Oberst Sergej Skripal, der als Informant für den britischen Auslandsgeheimdienst arbeitete, konnte man sehen: nicht zimperlich.
Im Auswärtigen Amt spioniert
Wie der Titel des Buches „GRU. Die unbekannte Geschichte des sowjetisch-russischen Militärgeheimdienstes von 1918 bis heute“ verrät, konzentriert sich Uhl auf die Jahre seit der offiziellen Gründung des militärischen Nachrichtendienstes in der Roten Armee am 5. November 1918. Dessen Ursprünge wiederum liegen in Napoleons Russlandfeldzug im Jahr 1812, den Uhl als „Geburtsstunde des russischen Militärgeheimdienstes“ bezeichnet. Als Instrument der Roten Armee war der GRU nicht dem Staat verpflichtet, sondern der Kommunistischen Partei. Die Aufgaben waren zunächst klassischer Natur: Die Agenten sollten ausländische Truppenverbände beobachten sowie Informationen über ihre Struktur, Organisation und Bewaffnung sammeln. Allgemein ging es auch um Angaben zur Rüstungsindustrie und politischen Stimmung in den Einsatzländern. Die befanden sich zunächst vor allem in Europa, wobei das Hauptinteresse Deutschland und Polen galt.
Von Mitte der 1920er an weitete der GRU sein Spionagenetzwerk aus. Zusätzlich zu den Militärattachés an den sowjetischen Botschaften wurden, um auch im Kriegsfall arbeitsfähig zu bleiben, sogenannte illegale Residenturen eingerichtet. Deren Leiter waren meist als Ausländer getarnte GRU-Offiziere oder prosowjetische ausländische Staatsbürger. Zu den bekanntesten Mitarbeitern des sowjetischen Militärgeheimdienstes in Deutschland gehörten die Journalisten Rudolf Herrnstadt und Ilse Stöbe, die auch Mitarbeiter im Auswärtigen Amt als Spione anwarben. 1930 arbeiteten allein für die GRU-Vertretung in Berlin laut Uhl mindestens 250 Menschen.
Vergebliche Warnungen vor deutschem Angriff
Als Anfang der 1930er mehrere Agentennetzwerke aufflogen, wuchs Stalins Unmut über den Geheimdienst. Und so blieb auch dieser nicht von den Säuberungen des Diktators verschont. Im Mai 1937 verkündete Stalin auf einer Parteiversammlung des GRU, dass die „Aufklärungsverwaltung mit ihrem Apparat in die Hände der Deutschen gefallen“ sei. Wenige Tage später wiederholte er, dass die Militäraufklärung „von Spionage durchsetzt“ sei. Allein 1937 wurden mehr als 150 GRU-Angehörige, darunter etliche ranghohe Mitarbeiter, verhaftet. Zum Ende des Jahrzehnts waren die Informationsnetze fast vollständig zusammengebrochen. Obwohl ein Wiederaufbau gelang, traute Stalin den Analysen des Geheimdienstes nicht. Er war nur an den Rohinformationen interessiert, die von den Agenten beschafft wurden. So glaubte er auch im Juni 1941 den Warnungen vor einem deutschen Angriff auf die Sowjetunion nicht.
Im Kalten Krieg weitete Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow den Einfluss der Kommunistischen Partei im GRU aus. Die Spionageerkenntnisse aus dem Westen etwa in der Kubakrise waren umfassend. Für Chruschtschow waren sie eine gute Grundlage, um zu wissen, wie weit er mit seinen Drohungen gehen konnte. Uhl hält fest, dass der Militärgeheimdienst damit sogar mäßigend auf die sowjetische Außenpolitik in jener Zeit einwirkte. In den folgenden Jahren wuchs der GRU zwar ständig an: Das Pentagon schätzte Mitte der 1970er die Zahl derjenigen, die für den Militärnachrichtendienst tätig waren, auf 60.500. Doch verbesserte dies die Aufklärung nicht. Zum Ende der Sowjetunion kam heraus, dass 97 Prozent aller Informationen aus öffentlichen Quellen wie Zeitungen stammten.
Magere Bilanz im Krieg gegen die Ukraine
Uhl gilt als Fachmann für die Geschichte des Kalten Krieges sowie der sowjetischen und russischen Nachrichtendienste. Er war lange wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau und arbeitet nun im Max Weber Netzwerk Osteuropa. Bemerkenswert ist die Quellenarbeit Uhls. Obwohl GRU-Akten kaum zugänglich sind, umfassen die Belege seiner Recherchen mehr als hundert Seiten. Hinzu kommt ein siebzigseitiges Personenregister, das durchaus hilfreich ist, um sich im Namensdschungel zurechtzufinden.
Uhls Darstellung des GRU ist detailliert und bedient sich trotz des wissenschaftlichen Ansatzes einer verständlichen Sprache. Manche Kapitel, wie zum Beispiel das über den Agenten „Murat“, lesen sich wie ein Spionageroman. Auch an Aktualität fehlt es dem Buch nicht. Der Historiker beendet das Geschichtskapitel mit dem bis heute andauernden Krieg gegen die Ukraine. Russlands Präsident Wladimir Putin hat den GRU zu einem seiner Machtinstrumente gemacht. Nicht zuletzt waren es im März 2014 Elitesoldaten des GRU, die als „Grüne Männchen“ ukrainische Behörden, Polizeistellen und Kasernen auf der Halbinsel Krim besetzten und damit den Weg für deren völkerrechtswidrige Annexion durch Moskau freimachten.
Können die Operationen auf der Krim, in der Ostukraine und in Syrien als Erfolg für den GRU gewertet werden, so kommt Uhl zu dem Schluss, dass die Bilanz im Krieg gegen die Ukraine seit 2022 eher mager ausfällt. Weder gelang es ihm, das teure Agentennetz in der Ukraine zu aktivieren, das in den ersten Tagen der Invasion die russische Armee unterstützen sollte, noch schadeten Cyberangriffe auf staatliche Stellen in der Ukraine diesen langfristig. Zudem werden die Spezialeinheiten des GRU eher an der Front verheizt statt sie für die Aufklärung im ukrainischen Hinterland zu verwenden.
Dennoch ist der Historiker Uhl davon überzeugt, dass der GRU auch eine russische Niederlage in der Ukraine überstehen würde. Zwar bedürfe es dringend umfangreicher Reformen, doch habe er sowohl menschliche als auch technische Aufklärungsmöglichkeiten, die den anderen russischen Diensten fehlen, resümiert Uhl.