Eine Jahresrückblicks-Liste : In welcher Welt sind wir 2022 aufgewacht?

Wir seien in einer anderen Welt ausgewacht, hatte Annalena Baerbock am Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gesagt. In welcher Welt finden wir uns Ende des Jahres wieder?
In einer Welt, ...
... in der auf einmal viele Menschen wissen, was ein HIMARS ist und was eine Haubitze.
... in der auch nukleare Laien einen Begriff wie „Streckbetrieb“ kennenlernten und grüne Atomkraftgegner mit zusammengebissenen Zähnen diese Betriebsform für denkmöglich erklärten.
... in der Friedrich Merz, Christian Lindner und Markus Söder die Ideen von Greta Thunberg vernünftig finden, sobald die fordert, Atomkraftwerke noch etwas laufen zu lassen.
... in der der größtmögliche eschatologische Begriffsaufwand („Zeitenwende“) betrieben wird, um das dazu erforderliche „Sondervermögen Bundeswehr“ über 100 Milliarden Euro in den Haushaltsplan zu bekommen.
... in der intellektuelle Diskurse sich darauf konzentrieren, wie viele Waffen genug und wie viele zu wenig sind.
... in der man sich den Gedanken an die Atombombe als eine Falle des Feinds verbieten möchte.
... und in der man trotzdem nicht so sicher sein kann, ob er nicht realistisch wäre.

... in der Europa keine Ahnung hat, welche Rolle es künftig in ihr spielen will außer natürlich der des moralisches Gewissens.
... in der die Frage danach, ob, ab wann oder wie viel man in seinem Zuhause heizt, auch eine politische ist.
... in der zugleich der weltpolitische Kampf um Energieversorgung spürbar in private Räume dringt.
... in der man die Klimakrise noch einmal leichter vergessen hat.
... in der man erleichtert ist, wenn es im Sommer einen Tag lang regnet
... und gleichzeitig befürchtet, dass daraus Starkregen wird.
... in der beim Museumsbesuch oft erst mal die Taschen durchsucht werden, ob nicht etwa Klebstoff darin ist oder Kartoffelbrei
... und nicht mehr allein die Lufthansa daran schuld ist, wenn jemand am Flughafen festklebt.

... in der politische Diskussionen unter Freunden nicht wie sonst die Freundschaft beleben, sondern plötzlich beenden können.
... in der Briefe innerhalb der Hauptstadt länger brauchen als Briefe, die aus anderen Hauptstädten kommen.
... in der man sich fragt, ob die Vorstellung, dass alles anders ist, obwohl sich für einen selbst gar nicht so viel geändert hat, ein Zeichen von Empathie und Solidarität ist
... oder nur das Privileg verwöhnter und verweichlichter Demokraten.
... in der man sich immer noch oft fragt, ob man morgens aufstehen soll
... und wofür oder wogegen.
... in der man aber wenigstens dank Homeoffice manchmal länger liegen bleiben kann,
... dafür aber der Arbeitstag niemals endet.

... in der der Traum vom schnellen Kryptoreichtum schon wieder vorbei ist; was nicht heißt, dass wir uns auf die Stabilität der alten Finanzordnung verlassen können.
... in der es auch Kulturbürger plötzlich nicht mehr selbstverständlich finden, abends ins Kino oder ins Theater zu gehen.
... in der zum ersten Mal weniger als die Hälfte der Deutschen Mitglied einer der großen Kirchen sind, während 1990 der Anteil noch bei 72 Prozent lag.
... in der dank Künstlicher Intelligenz jeder Text ein Bild sein kann.
... in der ein korrupter Weltfußballverband gemeinsam mit einem autokratischen System eine Fußballweltmeisterschaft im Winter durchgedrückt hat
... und dessen Präsident sich wünscht, für die Dauer der Spiele könnte Russland doch mal aufhören, die Ukraine anzugreifen.
... in der sogar grölende Fußballfans plötzlich fehlerfrei LGBTQI+ buchstabieren können, wenn es gegen den Islam geht.
... in der man von den Arbeitssklaven der andren reden kann, weil man die, die in Bangladesch die eigenen Billigklamotten nähen, lieber gar nicht erst ins Land lässt.

... in der die deutsche Fernsehintendanz nicht länger im Massagesessel sitzt.
... in der ein Christdemokrat meinte, einen „Sozialtourismus“ von Kriegsflüchtlingen zu erleben, „nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine“.
... in der zwei ehemalige SPD-Vorsitzende unsere niedrigen Erwartungen an sie unterboten – der eine, indem er sich als besonders einfühlsamer Putin-Versteher betätigte; der andere, indem er die „maßlose Kritik“ an Katar geißelte und seine Wertschätzung für den Emir bekundete.
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